Pijjut: Blütezeit der liturgischen Poesie

Pijjut: Blütezeit der liturgischen Poesie
Pijjut: Blütezeit der liturgischen Poesie
 
Über den Beginn der liturgischen Poesie im jüdischen Gottesdienst ist sehr wenig bekannt. Im Tempel in Jerusalem hatten Leviten-Chöre das tägliche Opfer mit Psalmengesang begleitet, sodass eine Tradition von liturgischer Musik und Poesie bestand. Eine direkte Verbindung zum »Pijjut«, der synagogalen Poesie, die etwa 400 Jahre nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels und dem Ende der Opfergottesdienste entstand, kann man aber nicht ziehen. Der jüdische Gottesdienst ließ in dieser Zeit zwischen den Pflichtgebeten und der Lesung aus den fünf Büchern Mose, der Thora, Raum für spontane Privatgebete. Weil diese aus dem Herzen des Beters gesprochen werden und die völlige Hinwendung zu Gott verlangen, wurden sie oft höher geschätzt als die nach festgelegten Texten gesprochenen Pflichtgebete. Die Umstehenden waren oft von solchen inspirierten Privatgebeten so beeindruckt, dass sie Teile davon lernten und später aufschrieben. Ein solches Privatgebet, das seinen festen Platz im Gottesdienst fand, weil es die Gedanken des einzelnen Beters und der ganzen Gemeinde so überzeugend ausdrückte, ist das Gebet von Mar, Sohn des Rabina:
 
»O Gott, hüte meine Zunge vor Bösem und meine Lippen vor Falschheit.
 
Lass mich schweigend Beschimpfungen anderer anhören.
 
Öffne mein Herz Deiner Thora.
 
Lass mich Deinen Geboten anhängen. ..«
 
Wichtiger für die Entstehung der liturgischen Poesie wurde aber die Regel, dass der Vorsänger die Pflichtgebete, die jeder Teilnehmer des Gottesdienstes sprechen muss, wiederholt, nachdem die Gemeinde sie gesagt hat. Dies sollte Betern, die den Text der Gebete nicht kennen, die Möglichkeit geben, durch die Antwort »Amen« ihre Gebetspflicht zu erfüllen. Zu Zeiten, in denen der genaue Wortlaut der Gebete nicht festgelegt war, konnten die Vorbeter diese Wiederholung in jeweils neue Worte fassen und so ihre poetischen Fähigkeiten unter Beweis stellen. Mit der Zeit wurden diese Wiederholungen zu Gelegenheiten für kunstvolle Gedichte, die nur noch an wenigen Stellen mit dem Inhalt des Gebetes verbunden waren. Weil die Dichter Woche für Woche mit neuen Werken vor ihr Publikum traten, orientierten sie sich inhaltlich nicht mehr am Text der Gebete, sondern am Inhalt des jeweils an diesem Sabbat vorgelesenen Abschnitts aus der Bibel. Eleazar ha-Qillir, der berühmteste Dichter der klassischen hebräischen liturgischen Poesie aus dem 7. Jahrhundert, beginnt einen Pijjut über die Offenbarung am Sinai (2. Mose 19) mit der dramatischen Beschreibung: »Die Erde zitterte und fürchtete [sich],/ im dritten Monat war sie erschüttert,/ ihre Bewohner fürchteten um ihr Leben,/ da sie meinen Liebsten (Gott) erblickte und erschrak.«
 
Zunächst schrieben in fast allen Gemeinden die Vorbeter von Woche zu Woche neue Gedichte, die nicht zur Wiederholung bestimmt waren. Vergleichbar mit den Kantaten Johann Sebastian Bachs, die dieser wöchentlich mit dem Thomanerchor einstudierte, entstand seit dem 6. Jahrhundert in Palästina eine hebräische liturgische »Gebrauchslyrik«, die alle Stärken und Schwächen solcher »Massenproduktion« aufweist: Wenige wirklich begabte Dichter schrieben immer wieder Werke von klassischer Schönheit und hohem geistigem Niveau. Andere verfassten teils sehr gelungene, teils aber auch nichtssagende Gedichte, während die Vorbeter, denen das poetische Talent fehlte, ihre Gemeinden häufig mit wenig ansprechenden Werken zu erfreuen suchten. Bald setzten sich jedoch die Werke besonders guter Dichter durch, die abgeschrieben und verbreitet wurden. Da der Geschmack der Gemeinde bestimmte, welche poetischen Werke im Gottesdienst vorgetragen werden durften, kopierten sich Vorbeter die erfolgreichen Gedichte ihrer Kollegen, die sie dann ihren Gemeinden vortrugen.
 
Bis zum Beginn des 6. Jahrhunderts fehlte der hebräischen Poesie der Reim. Einige frühe Gedichte zeigen Versuche, dieses poetische Mittel in die liturgische Poesie einzufügen. In einem Gedicht, das mit dem Bibelvers »Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist Einer« (5. Mose 6, 4) verbunden ist, lässt der Dichter Jannaj aus dem 6. Jahrhundert jede Zeile mit dem gleichen Wort (echad = Einer, eins) aufhören:
 
»Es gibt keinen Zweiten, es gibt nur Einen,
 
denn gäbe es einen Zweiten, so wäre kein Einer,
 
auch gibt es keinen zweiten Gott, Gott ist Einer,
 
genug, dass es zwei Welten gibt und nicht der Welten eine.
 
Ist nicht für uns alle (der) Vater Einer?
 
Genauso ist für uns Gott Einer.«
 
Es wurde auch versucht, alle Zeilen einer Strophe mit Wörtern gleicher Bedeutung aufhören zu lassen. Dieser »semantische Reim« setzte sich aber nicht durch, stattdessen findet sich seit der Mitte des 6. Jahrhunderts nur noch gereimte liturgische Poesie. Ohne ein genau festgelegtes metrisches System verfassten die Dichter ihre Werke in mehr oder weniger gleich langen Zeilen, die oft nur zwei bis drei Wörter enthielten, aber auch bis zu sieben Wörtern lang sein konnten. Die Übersetzung kann die Kürze der Zeilen von je zwei hebräischen Wörtern in diesem Gedicht von Simon ben Isaak aus dem 11. Jahrhundert kaum entsprechend wiedergeben:
 
»Der Herr erzog mich,
 
Er behauste mich,
 
dem Menschen gab Er mich,
 
der HERR schuf mich.«
 
Hier spricht die personifizierte Weisheit, die als Repräsentantin des jüdischen Gesetzes ihren göttlichen Ursprung bekräftigt. Als göttliches Werk in der Hand des Menschen soll sie seinen Lebensweg bestimmen und ihn so ihrem und seinem Schöpfer näherbringen. Als zusätzlicher Schmuck wurde das Akrostichon verwendet: Die ersten Zeilen jeder Strophe begannen mit jeweils einem Buchstaben aus dem fortlaufenden Alphabet. Später, als das Selbstbewusstsein der Dichter stieg, wurde das Alphabet auch durch den Namen und die Vatersnamen des Dichters ergänzt oder ersetzt, sodass die ersten Buchstaben jeder Zeile oder Strophe senkrecht gelesen den Autor des Gedichts verraten.
 
Den poetischen Charakter erhielten die Gedichte vor allem durch die Sprache, die bewusst von der Alltagssprache unterschieden wurde. Zu dieser Zeit war Hebräisch nicht mehr die Umgangssprache der Dichter und ihres Publikums, aber für die liturgische Poesie, die sich direkt an Gott wendet, bemühte man sich um ein reines Hebräisch, in dem auch keine Fremdwörter aus anderen Sprachen verwendet wurden. Die Sprache der liturgischen Poesie sollte der »Sprache der Engel« ähnlich sein. Dadurch entstand ein rätselhafter Stil, in dem die Dichter es sich zur Aufgabe machten, auch einfache Sachverhalte kompliziert auszudrücken. Zu diesem Zweck wurden etwa Namen von biblischen Figuren oft durch poetische Bezeichnungen ersetzt, die auf eine Eigenschaft der Figur anspielten. Die jüdische Tradition, dass Esau die zu diesem Zeitpunkt noch kinderlose Frau seines Bruders Jakob, Rachel, diesem wegnehmen und selber heiraten wollte, drückte Eleazar ha-Qillir in diesem Stil aus: »Der Rötliche, da er gewahrte, dass sie nie Wehen erlitt,/ verlangte sie sich zu nehmen, und sie verwirrte sich,/ sie betete viele ob dieser Vorherschau,/ Er (Gott) löste sie vom Heimtückischen, sie ward nicht geschändet.« »Rötlicher« wird Esau nach seinen roten Haaren genannt, die schon bei seiner Geburt sichtbar waren. Als negativer Gegenpol zu Jakob, dem Urvater Israels, wird er mit allen negativen Eigenschaften ausgestattet, die dann auch zu seiner Bezeichnung dienen können.
 
Nach einer großen Blüte in Palästina im 6. und 7. Jahrhundert verbreitete sich die hebräische liturgische Poesie über alle Länder, in denen Juden lebten. Die Werke der hervorragendsten Dichter der klassischen Epoche wurden jahrhundertelang in den Gebetsbüchern bewahrt und sind in vielen Gemeinden bis heute Teil des Gottesdienstes. Andererseits verfassten Dichter in allen Ländern immer wieder neue Werke, die neben oder statt der überlieferten Gedichte in den Gottesdienst aufgenommen wurden. In den verschiedenen Ländern entwickelten sich dabei verschiedene Stilrichtungen, die oft einen deutlichen Bezug auch zur nicht-jüdischen Landeskultur aufweisen. Gleich sind sich alle Pijjutim aber darin, dass hier ein Mensch als Vertreter seiner Gemeinde nach einer besonderen Sprache sucht, um zu Gott zu reden.
 
Dr. Elisabeth Hollender
 
 
Stemberger, Günter: Geschichte der jüdischen Literatur. Eine Einführung. München 1977.

Universal-Lexikon. 2012.

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